Ins Museum statt in den Wald
Julia Zabudkin kam aus der Ukraine nach Deutschland. Weil sie nicht wollte, dass ihre Kinder ihre Wurzeln vergessen, hat sie deutsch-russische Kindergärten gegründet.
»Willkommen in Nezabudka 1«, sagt Julia Zabudkin und klingt dabei, als führe sie durch ein kleines Imperium. Vor fünf Jahren hat sie den ersten der heute drei bilingualen deutsch-russischen Ganztagskindergärten in Frankfurt am Main eröffnet, mit einem Namen, der Programm ist – nezabudka heißt auf Deutsch »Vergissmeinnicht«, die Kinder sollen gute Erinnerungen an ihre erste elternfreie Zeit haben. Nezabudka 1 ist in einem modernen Gebäude im neuen Geschäftsviertel am Frankfurter Westbahnhof untergebracht, die Innenwände hat eine Künstlerin mit Märchenmotiven bemalt, das Spielzeug ist aus Holz, die Bettchen sind es auch. Montags kommen die Vorleser Schenja und Natascha, dienstags die Klavierspielerin Tatjana, dienstagnachmittags bastelt Ralph mit älteren Kindern in der Werkstatt, Donnerstag ist Ausflugstag, Freitag gibt es Sport. Es ist ein Kindergarten, der offen ist für Deutsche und Russen gleichermaßen, jede Gruppe aus maximal 14 Kindern wird von je zwei Erzieherinnen betreut, einer deutschen und einer russischen, die sich mit den Kindern konsequent in der jeweiligen Muttersprache unterhalten. Warum wollte Julia Zabudkin unbedingt einen bilingualen Kindergarten gründen?
»Jede Kultur ist gleich viel Wert«, sagt sie, »das sollen die Kinder neben der Sprache lernen.« Auch ihre eigenen Kinder. Und dann holt die 34-Jährige ein wenig aus. Sie wird 1977 im ukrainischen Kiew geboren, mit 18 heiratet Zabudkin ihre Jugendliebe. Sie folgt ihrem Mann ein Jahr später nach Deutschland. Er studiert BWL. Sie spricht kein Wort Deutsch, darf jedoch ihr in Kiew begonnenes Sozialpädagogikstudium an der Fachhochschule in Dortmund fortsetzen. »Abends habe ich mit meinem Mann gerätselt, was die Professoren gemeint haben könnten«, sagt sie über die Anfangsschwierigkeiten. Doch Kinder der sowjetischen Intelligenzija, wie die Zabudkins, sind es gewohnt, fleißig zu sein. Als sie den Abschluss innerhalb der Regelstudienzeit macht, spricht Zabudkin fehlerfrei Deutsch. Sie wird Mutter, ihren Sohn nennt sie Leo. Leo soll einmal nicht nur Deutsch, er soll auch Russisch sprechen. Als die junge Familie 2000 nach Frankfurt zieht, sucht Julia Zabudkin eine russische Spielgruppe. Fast drei Millionen Einwanderer aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion leben in Deutschland, sie bilden damit die zweitgrößte Einwanderergruppe. In Frankfurt sind es etwa 15.000. Eine Spielgruppe findet Zabudkin nicht, dafür trifft sie viele andere russische Eltern, die sich darum sorgen, dass sie mit ihren Kindern einmal nicht mehr in ihrer Muttersprache sprechen können. Da entwickelt Zabudkin ihren Plan für einen deutsch-russischen Kindergarten.
Sie gründet eine russische Spielgruppe und bringt den Eineinhalbjährigen bei, im Kreis zu sitzen und russische Kinderlieder zu singen. Dabei testet sie schon mal mögliche Mitarbeiterinnen und macht die Beobachtung, dass manch eine Muttersprachlerin im Ausland ihr Russisch verlernt hat und somit als Erzieherin für ihren neuen Kindergarten nicht infrage kommt. Sie klopft überall an, wo sie glaubt, etwas über die Zweisprachigkeit lernen zu können – kassiert Absagen, trifft auf Vorurteile. Findet aber auch eine Gleichgesinnte: Natalia Vukolova vom Kulturverein Slowo, der später zum Träger der neuen Kindergärten werden soll. Mit ihr zusammen tüftelt sie an einem Geschäftsplan. In dieser »Gründerzeit« kommt ihre Tochter Emilia zur Welt. Ihren Mann, der mittlerweile ein erfolgreicher Banker ist, sieht Zabudkin selten.
Als die Stadt sich von der Idee begeistern lässt und sich bereit erklärt, die Finanzierung für den Nezabudka zu übernehmen, ist sie überrascht. »Ich hatte sowohl Ehrfurcht vor der deutschen Bürokratie als auch eine aus der Ukraine mitgebrachte Angst vor Beamten, die ohne Schmiergeld nichts tun.« Die eine oder andere Hürde wartete aber noch auf sie. Sie erzählt, wie potenzielle Vermieter ihr unterstellten, dass sie ein Bordell betreiben wolle, und ihr keinen Raum geben wollten. Der, der es schließlich tat, war ein Frankfurter Großvermieter jüdischer Herkunft, dessen Vorfahren aus Russland nach Deutschland geflohen waren.
Heute hat sie mit keinen Vorurteilen mehr zu kämpfen: Nicht nur russische oder deutsch-russische Ehepaare stürmten den Kindergarten, auch viele deutsche. Fragt man sie, warum, sagt Zabudkin: »Weil sie Russisch studiert haben oder beruflich oft in Russland sind. Oder einfach eine nette russische Nachbarin haben.« Auf der Warteliste des Nezabudka 3 im Stadtteil Sachsenhausen habe die Hälfte der Familien allerdings gar keinen Bezug zu Russland: »Sie kommen zu uns und sagen, sie hätten gehört, dass es bei uns gut sei.«
Sie erzählt von den kulturellen Unterschieden in ihren Kindergärten: Die russischen Eltern wollen, dass ihre Kinder Museen und Theater besuchen, während die deutschen Ausflüge in die freie Natur vorziehen. Die Russen wollen, dass ihre Kinder in richtigen Betten schlafen, für Deutsche ist die Mittagsruhe sekundär.
»Ich finde das schön, dass es Unterschiede und Reibungen gibt«, sagt Zabudkin, die einen deutschen und einen ukrainischen Pass hat. Über manches kann sie nur schmunzeln: »Eine russische Mutter, die gegenüber dem Kindergarten wohnte, hielt auf dem Balkon Wache und rief sofort an, sobald sie ihr Kind ohne eine Mütze draußen spielen sah.« Die russischen Kinder seien tendenziell zu warm angezogen. Die deutschen Eltern schütteln über Strumpfhosen im September nur den Kopf.
Die Nezabudka-Kindergärten laufen gut. Deshalb überrascht es Zabudkin nun, dass die hessischen Behörden in der Stadt, die stolz ist auf ihre Internationalität und die die Nezabudkas 2010 sogar als gemeinnützig anerkannt hat, die Gründung einer staatlichen bilingualen deutsch-russischen Ganztagsschule untersagen. »Und das in den Zeiten der Pisa-Misere, mangelnder Kinderbetreuung und Forderungen nach Integration«, sagt Zabudkin. Gerade für die Integration würden ihrer Meinung nach die Nezabudkas eine gute Lösung bieten. »Wir haben bewiesen, dass unser Konzept erfolgreich ist.« Es habe in all den fünf Jahren nur ein einziges Kind gegeben, das aus dem Kindergarten ohne gutes Deutsch ging, sagt Zabudkin. Ihre eigenen drei Kinder sprechen untereinander Deutsch. Als ihr ältester Sohn Leo in die ganz normale deutsche Grundschule kam, habe er dort als einer der Ersten das Lesen und Schreiben gelernt – weil er es schon auf Russisch konnte.
Obwohl die Nezabudkas von fast 150 Kindern besucht werden, von denen die eine Hälfte Russisch und die andere Deutsch als Muttersprache hat, und auf der Warteliste Hunderte von Namen stehen, ist das Kultusministerium in Wiesbaden der Meinung, dass es »nicht zu erwarten« sei, dass »die zentrale Vorgabe, die Klassen je zur Hälfte von deutschsprachigen und russischsprachigen Kindern zu besetzen, erfüllt werden kann«. Deshalb empfiehlt es in seinem Schreiben an den Verein Slowo die Gründung einer Privatschule. Eine solche Privatschule könnte allerdings zur Schule für »reiche Russen« verkommen, findet Zabudkin. »Und das ist doch das Gegenteil von Integration.«